Während es Bruno nicht gelingt, sich vor dem Haus aus den verbalen Fängen der alten Frau Kruse zu befreien, verkochen drinnen in der Küche Kartoffeln und Porree (diejenigen, die mit dem Ausdruck „Porree“ nichts anfangen können, kennen dieses Gemüse vielleicht besser als „Lauch“).
Inspiration für Frau Kruse ist eine legendär neugierige alte Frau aus der Nachbarschaft meiner Eltern in den Sechzigerjahren. Für die Figur in „Vitamin V wie Wohnung“ mache ich außerdem Anleihen bei Mrs. Shapiro aus Marina Lewyckas Roman „Das Leben kleben“ (sehr empfehlenswert, auch in der von Katharina Thalbach gelesenen Hörbuchfassung!), die in einer heruntergekommenen Villa in einer veritablen Katzenhölle lebt.
Die Szene mit Frau Kruse war ursprünglich länger, aber da es letztlich doch nur ein Exkurs war, habe ich einen Teil davon gestrichen, ganz mochte ich mich nicht von ihr trennen. Aber der gestrichene Teil ist zu schön, um ihn auf der Festplatte verstauben zu lassen, finde ich!
Bruno stand im Vorgarten an der offenen Mülltonne und schlug den Biomüllbehälter gegen die Tonne, um auch die letzten Stückchen zu lösen, die hartnäckig im Behälter klebten. Hinter der Hecke des Nachbargartens tauchte die alte Frau Kruse auf. Sie schob ihre kurze Gestalt mit gebeugten Schultern mühevoll Schritt für Schritt vorwärts und nahm wie immer jeden Anlass, ihren anstrengenden Gang zu unterbrechen, dankbar an.
„Ach, der Herr Seeger“, krächzte sie, „wir haben uns ja schon lange nicht mehr gesehen!“
Nee, dachte Bruno, ist auch besser so. „Guten Abend, Frau Kruse.“
„Sie waren doch in Urlaub, nicht? Wo waren Sie noch? Irland? Nein, warten Sie, Grönland, nicht wahr?“
„Island. War schön.“
„Island! Sagen Sie mal, ist es da nicht viel zu kalt?“
„Kommt drauf an. Wir hatten dieses Jahr Glück und konnten fast jeden Tag in kurzen Ärmeln gehen.“
„Kurzärmelig? Das ist ja wie in den Tropen!“
Ja, dachte Bruno, selber im Kurzarmhemd, wenn man selbst bei diesem Wetter im Mantel unterwegs war wie Frau Kruse, dann mochten einem kurze Ärmel geradezu frivol vorkommen. Der Biomüllbehälter war mittlerweile leer, Bruno schloss den Deckel der Mülltonne.
„Frau Kruse, es war nett, mit Ihnen zu plaudern, aber ich muss jetzt wieder ins Haus. Wir bekommen nachher Besuch und ich habe Gemüse auf dem Herd stehen.“
Solche Hinweise wusste Frau Kruse gekonnt zu ignorieren. „Sie kochen? Das mache ich ja auch noch jeden Tag. Ich lasse es mir nicht nehmen, für meine kleinen Lieblinge selber zu kochen. Das ist viel besser als das gekaufte Katzenfutter.“
Frau Kruse und ihre Katzen. Dieses in der Nachbarschaft mit Lust diskutierte Thema bot eine hervorragende Gelegenheit, die Entstehung von Legenden live mitzuerleben. Wie viele Katzen tatsächlich in ihrem Haus lebten, war unbekannt. Vor einigen Jahren waren zwei- oder dreimal Nachbarn kurz bei ihr im Haus gewesen und deren Augenzeugenberichte waren eifrig weitererzählt worden, wobei sie sich von Station zu Station weiter ins Fantastische steigerten. Demnach bevölkerten Dutzende Katzen das Haus, in dem permanent ein stechender Geruch herrschte: Sie schlichen durch die Flure, ruhten auf Sofa, Schrank und Stühlen, auf denen sie im Laufe der Jahre ein stattliches Naturhaarpolster hinterlassen hatten, und strichen Besuchern maunzend um die Beine. Belegte Sichtungen einzelner Katzen kamen allerdings über vier Stück nicht hinaus. Tatsache war, dass Frau Kruse selbst stets von einem etwas muffigen Geruch nach Tier umweht war und sich immer Katzenhaare auf ihrer Kleidung fanden, mal weiß, mal grau, schwarz oder rotbraun. Dies, ihre gebeugte Gestalt und die unheimlichen Geschichten verliehen ihr eine hexenartige Aura, und nicht wenige Kinder fassten ihre Eltern fester an der Hand, sobald sie vor ihnen auf dem Weg auftauchte.
Mindestens ebenso legendär war allerdings ihre Fähigkeit, ihre Mitmenschen in unerwünschte Gespräche zu verwickeln, aus denen man sich nur mit regelrechter Unhöflichkeit befreien konnte, was den meisten Menschen schwer fiel. Dies war jetzt auch Brunos vordringliches Problem, denn während Frau Kruse über die häusliche Zubereitung nahrhaften Katzenfutters schwadronierte, dachte er an das Gemüse, das drinnen vor sich hin kochte und inzwischen sicherlich gar war.
„Frau Kruse, ich muss jetzt dringend ins Haus.“
„Ach ja, Sie bekommen ja Besuch! Wieder dieser hochgewachsene Herr mit dem weißen Schnurrbart? Und der kurzen dicken Gattin?“ Neugier war eine weitere hervorstechende Eigenschaft von Frau Kruse, Takt dagegen offenbar weniger.
„Ganz genau“, beschied Bruno sie resolut, „und wenn die dicke Gattin nichts Anständiges zu essen bekommt, wird sie unleidlich. Sie entschuldigen mich jetzt bitte.“ Und damit wandte er sich um und eilte ins Haus. Entschuldige, Gisela, dachte er, jetzt habe ich dich bei der alten Kruse so richtig in Verruf gebracht.