Zehn Minuten später saß sie im Nachthemd und mit hochgelegten Füßen auf der unbeleuchteten Terrasse. Sie badete ihre Gliedmaßen in der lauen Nachtluft und gab sich dem rauchigen Blues hin, der aus ihren Funkkopfhörern kam. Die wehmütig-klagenden Klänge des Chicago Blues hatten sie mit ihrer undefinierbaren Sehnsüchtigkeit schon als junges Mädchen in ihren Bann gezogen und diese erste Liebe hatte ein ganzes Leben lang gehalten. Die Musik ging ihr vom Ohr direkt ins Herz.
Ohren auf, Augen zu!
Natürlich gibt es über den Chicago Blues einiges zu sagen, aber ich will nicht gleich so verkopft anfangen, das würde dieser schönen Musik überhaupt nicht gerecht. Das muss man fühlen!
Also: Wir schließen die Augen und stellen uns eine ganz milde Sommernacht vor. Wir sitzen auf der Terrasse hinterm Haus, haben die Füße hochgelegt, die warme Luft liebkost unsere nackte Haut und aus den Kopfhörern kommen solche Töne:
Hach!
Schön, oder?
Das war „Blue and Lonesome“ von Little Walter, laut Wikipedia einer „der stilbildenden Musiker des Chicago Blues“. Die Aufnahme muss irgendwann zwischen 1950 und 1967 entstanden sein, ich finde, sie klingt eher älter. (Und hat angeblich das 2016 erschienene sehr schöne Blues-Album „Blue & Lonesome“ von den Rolling Stones inspiriert.)
Vom Mississippi Delta in die „Windy City“
Und mit Little Walter sind wir auch schon mittendrin. Chicago Blues. Seinen Ursprung hat der Chicago Blues viel weiter südlich, im Mississippi Delta. (Das ist übrigens nicht das Flussdelta, an dem der Mississippi in den Golf von Mexiko mündet, sondern ein gut 300 Kilometer langer Streifen östlich des Mississippi im gleichnamigen Bundesstaat, habe ich vorher auch nicht gewusst.) In der fruchtbaren Flussebene wurden ab dem 18. Jahrhundert Zuckerrohr, Reis und Baumwolle angebaut. Und das, wie man weiß, mit Hilfe von Sklaven. Die Sklaverei war zwar nach dem amerikanischen Bürgerkrieg Geschichte und manche ehemalige Sklaven bewirtschafteten eigene kleine Bauernhöfe, andere verdienten ihr Geld als Wanderarbeiter, aber als vollwertige Bürger wurden sie allesamt trotzdem nicht behandelt.
Lightnin’ Hopkins: „Woke Up This Morning“
Die Stadt elektrisiert
Auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben zogen Mitte des 20. Jahrhunderts viele junge Menschen vom Mississippi Delta nordwärts in die „Windy City“, wie Chicago auch genannt wird. Und nahmen ihre Musik mit, den Delta Blues, eine „rauhe und kantige“ Musik, mit der die schwarzen Wanderarbeiter „dem trostlosen Arbeitsalltag entfliehen“ wollten.
In der Stadt hat sich ihre Musik verändert, hat die neue Umgebung in sich aufgenommen. Die Musiker begannen, mit elektrischen Verstärkern zu arbeiten, das verschaffte ihnen in den Clubs auch besser Gehör. Und so veränderte sich der ganze Sound, wurde härter und elektrischer. Little Walter, den wir oben gehört haben, etablierte die verstärkte Mundharmonika als bald unverzichtbares Instrument in Bluesbands: „Clubbesitzer nahmen jetzt nur noch Combos mit einem Harpspieler unter Vertrag.“
Harp: zupfen oder blasen?
Kleiner Exkurs an dieser Stelle: Im Film „Blues Brothers“ sagt Elwood:
„Curtis, du und der Pinguin. Ihr seid sowas wie ’ne Familie für uns. Ihr seid die einzigen, die jemals gut zu uns waren. Lieder von Elmore James habt ihr hier gesungen und habt die Harfe hier unten geblasen.“
Moment mal, die Harfe … geblasen? Eine Harfe hat Saiten, aber ich schätze mal, wenn man dagegen pustet, passiert nicht viel. Ein ziemlich übler Übersetzungsfehler, denn mit der „harp“ ist hier die Mundharmonika gemeint. Das Erstaunliche an der Sache: Die Aussage ist dermaßen sinnlos, dass man sich fragt, wie sie Übersetzung, Redaktion und Aufnahme überstehen konnte. Nun ja.
Noch mehr auf die Ohren
Ohne viele Worte!
Tell Me What I’ve Done, drängte Howlin’ Wolf mit beschwörender Intensität. Sie ließ sich von den lockenden Klängen entführen und genoss den Moment.
„Tell Me What I’ve Done“ von Howlin‘ Wolf
„The Sky Is Crying“ von Elmore James
… und zum Lesen
(Auf Englisch)
Mit tollen Bildern: http://www.bbc.com/news/in-pictures-40715455
https://www.chibarproject.com/Memoriam/Theresa’s/Theresa’s.htm
http://www.press.uchicago.edu/Misc/Chicago/305686in.html
Und zu guter Letzt ein bekannteres und unübertoffen schönes Stück:
Smokestack Lightnin’ von Howlin’ Wolf